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Die Kirchturmuhr – ideologisch unproblematisch?

Uhren scheinen uns auf den ersten Blick objektive, wertfreie Zeitangaben zu liefern. Hinterfragt man tiefer, wie genau wir Zeit verstehen und warum, eröffnet sich ein ganzes Feld historisch-ideologischer Komplexitäten, die selten in den Fokus gestellt werden. Dies hat Auswirkungen auf die scheinbare Wertfreiheit und Neutralität von Kirchturmuhren, deren Position als öffentlich sichtbare Teile religiöser Bauten spannende Komplexitäten birgt.

Um ebendies untersuchen zu können, muss zuerst die kapitalistische Prägung unseres gängigen Zeitverständnisses untersucht werden. Zeit ist eine der grundlegenden Größen, mithilfe derer wir unsere Leben greifbar machen und vor allem auch planen. Daher ist es höchst relevant, welche Struktur durch diese Größe vorgegeben wird.

Eines der – wenn nicht das – bestimmende Element im Leben der meisten Menschen ist die Erwerbsarbeit. Sie bestimmt, welche Tage wir „frei“ haben, nimmt an Arbeitstagen den größten Teil der Wachzeit ein und strukturiert Ess- und Schlafenszeiten. Während manche Menschen ihrer Erwerbsarbeit aus reiner Freude nachgehen, ist sie für die überwältigende Mehrheit eine (Über-)Lebensnotwendigkeit.

Diese Herrschaft, die die Erwerbsarbeit über unsere Zeit ausübt, schlägt sich darin nieder, wie wir diese verstehen. Es wird angenommen, dass man „unter der Woche“ arbeitet, beginnend zu einer gewissen Uhrzeit und für eine „angemessene“ Länge. Größer gedacht, gibt es beschränkte Zeiten im Jahr, wo Urlaub stattzufinden hat, jahreszeitbedingte Pausen und vereinzelte Brückentage. Noch weiter gesehen wird das Leben in Zeitabschnitte eingeteilt, die von ihrer Beziehung zur Arbeit geprägt sind: Schule, Ausbildung, klassische Berufsausübung, Rente. Selbst wenn bestimmte Gruppen aus diesen Mustern ausbrechen, ist die Normalität nach der kapitalistischen Ausbeutungsverfügbarkeit des Einzelnen getaktet.

Zudem wird der Widerstand gegen die von dem dominanten Zeitverständnis geschaffenen „Normalitäten“ wieder kapitalistisch verwertbar gemacht. So hat sich zum Beispiel das Versprechen von eigenständiger Zeiteinteilung, mit dem die Gig-Economy wirbt, als Horror fehlender Absicherung und katastrophaler Arbeitsbedingungen entpuppt.

In dieser Verschränkung von gängigem Zeitverständnis und Erwerbsarbeit wohnen all die Unterdrückungssysteme, die unserem Kapitalismus inhärent sind – Rassismus, Ableismus, Queerfeindlichkeit, etc. Als Beispiel will ich hier weiblich konnotierte Formen der Fürsorgearbeit aufführen. Da Betreuung und Pflege von Kindern, Alten und anderen hilfsbedürftigen Menschen oftmals außerhalb der „Erwerbsarbeit“-Zeiten im privaten Raum passiert, wird sie selten als Arbeit verstanden. Diese Sorgearbeit wird zumeist von Frauen geleistet und als Selbstverständlichkeit statt Zusatzbelastung angesehen. So setzen sich patriarchale Muster der Arbeitsverteilung unter dem kapitalistischem Arbeitsverständnis weiter durch.

Historisch gesehen gehörten Kirchtürme zu den ersten Orten, an denen mechanische Räderuhren die Sonnenuhren ablösten und waren somit im Zentrum einer Innovation, die den öffentlichen Raum mit der Symbolik eines bestimmten Zeitverständnisses durchdrang. Natürlich war das noch nicht geprägt vom Kapitalismus unserer Zeit, zumal im Mittelalter andere ökonomische Strukturen herrschten. Nichtsdestotrotz hat sich das heutige Wirtschaftssystem aus dem damaligen entwickelt und es ist nicht zu unterschätzen, welche Auswirkungen mittelalterliche Paradigmen, die von der Kirche maßgeblich geprägt waren, noch heute auf unsere Gesellschaft haben.

Zu behaupten, die Kirche wäre alleinverantwortlich für das dominante Zeitverständnis heute, ist nicht nur falsch, sondern vernachlässigt wichtige Komplexitäten des Sachverhaltes. Das Problem geht außerdem über die Verstärkung kapitalistischer Muster durch Kirchturmuhren hinaus. Die prominente Rolle, die die Kirche im Netz der Unterdrückungsstrukturen unserer Welt einnimmt, bleibt meist unangetastet.

Zudem gibt es Parallelen zwischen kirchlicher Praxis und kapitalistischer Verwertungslogik. Der ständige Druck, die eigene Freizeit im Sinne der Produktivität und Selbstoptimierung zu verbringen, der von kapitalistischen Strukturen ausgeht, findet sein kirchliches Pendant im Läuten zum Gebet. Dieses Geräusch, ob als wohltuend oder lärmend empfunden, ist eine Aufforderung, freie Zeit im Sinne der Kirche „richtig“ zu verbringen: mit dem Besuch des Gottesdienstes. Während das Ignorieren dieses Rufes christlich sozialisierten Menschen mitunter Schuldgefühle bereitet, wird allen anderen ihr Anderssein deutlich hörbar vermittelt. Damit hat das Glockengeläut, das zum Gebet aufruft, schon fast einen perfiden Zug.

Als weiterer Punkt ist anzumerken, dass die Kirchturmuhr heute nicht mehr die Uhr im Privathaushalt ersetzt und somit ihre scheinbar zentrale Funktion verloren hat. Und trotzdem hört man vielerorts alle 15 Minuten die Glocken schlagen. Die Kombination aus praktischer Nutzlosigkeit und Omnipräsenz, um nicht zu sagen Penetranz, liefert einen Hinweis auf eine ideologische Signifikanz der Symbolik.

Kirchturmuhren sind also nicht nur eine weitverbreitete Demonstration christlicher Dominanz, sondern verstärken gleichzeitig ein kapitalistisches Paradigma, das Erwerbsarbeit an erste Stelle setzt und Unterdrückung aufrechterhält.

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