Maria, was haben sie aus dir gemacht? Was haben sie dir angetan? Du fromme, reine, junge Frau. Du Mutter Gottes, du Ehrfürchtige, du Unbefleckte, Dienende. Stille, stumme, junge Frau. Was haben sie aus dir gemacht?
Das Bild, das in Jahrhunderten von dir gezeichnet wurde, ist mir so fremd. Ich sehe dich, wie du dein Kind hältst, in blauem Gewand. Dein Gesicht ist kalt und unbewegt. Dein Haupt gesenkt, deine Augen niedergeschlagen, dein Mund ist stumm. Du bist nur hier für dieses Kind, oder? Ist das alles, was du bist? Mutter Gottes?
Ich lese deine Geschichte, Maria. Und sie ist so anders als alles, was ich von dir kennengelernt habe. Anders als die frommen Bilder, die unbewegten Figuren, der kalte, nackte Stein. Ich sehe dich ganz anders, ganz neu.
Denn du bist so viel mehr als diese Jungfrau, die sie aus dir gemacht haben. Du singst, du schreist, zusammen mit allen Frauen deiner Zeit und den unzähligen Frauen vor dir. Du betest. Zu einem Gott, der dich nicht klein und stumm macht. Deine Geschichte mit Gott ist anders. „Und meine Seele hat gejubelt über Gott, meinen Retter.“ Dein Gott hat dich aus der Tiefe geholt. Er hat dich groß gemacht und stark. „Er hat Mächtige von Thronen hinabgestoßen und Niedrige erhöht. Hungrige hat er mit Gütern erfüllt und Reiche leer fortgeschickt.“ Dein Gebet ist voller Kraft und Hoffnung. Dein Gebet ist voller Wut und Freude. Du kämpfst. Zusammen mit einem Gott der Gerechtigkeit. Gegen deine Verstummung und gegen deine Unsichtbarmachung. Du kämpfst. Zusammen mit Mirjam, mit Hanna und Ruth, mit Debora und Judit, mit Elisabeth. Mit so vielen Frauen. Wofür kämpft ihr? Für eine Gerechtigkeit, wie nur Gott sie kennt. Für Freiheit und Gleichheit. Für Brot und Arbeit. Für eure Kinder. Für ein Leben in Fülle. Für die Zukunft und für das Jetzt. Maria, was haben sie aus dir gemacht? Du singst, dein Gott hat dich aus deiner Sklaverei befreit. Und sie haben dich wieder in Ketten gelegt. Als fromme, reine, junge, stille Frau. Sie haben einen komischen Gott gemacht, einen Gott der Reichen und Mächtigen. Einen Gott der starken Männer, einen Gott der Gewalt. Dafür musstest du klein werden. Klein und stumm, und bitte rein. Aber ich höre dein Lied, dein Gebet, deine Tradition, aus der du kommst, dein Schreien und deinen Widerstand. Maria, ich werde ihn weitertragen, wie auch du den Widerstand der Frauen vor dir weitergetragen hast. Mit einem Kind auf dem Arm, mit Liebe und Wut im Gesicht, berührt, befreit, laut und niemals klein zu kriegen. Lasst uns singen, mit den Frauen, die vor uns waren: „Du bist ein Gott der Erniedrigten, ein Beistand der Schwachen, ein Helfer der Geringen, ein Beschützer der Verachteten und ein Retter der Hoffnungslosen!“
Eine Antwort auf „Maria“
Ich habe das Bild von der fromme Gottesmutter, die ihr Schicksal demütig akzeptiert auch so satt! Bei dem Lied „Maria, breit den Mantel aus“ habe ich sie als Kind immer schon fast als Heldin wahrgenommen. Wieso ist das nicht das vorherrschende Bild gewesen, obwohl es das Lied auch schon lange gibt…