oder: Verantwortung für unsere Welt
Es ist der 1. Oktober 1968. Seit langem ist die Antoniterkirche in der Kölner Innenstadt nicht mehr so voll gewesen. Dicht gedrängt sitzen und stehen über eintausend Menschen an diesem Dienstagabend in der evangelischen Kirche in der Schildergasse. Menschen, die sich selbst als Christ:innen bezeichnen und Menschen, die sich gerade nicht als Christ:innen bezeichnen würden; Menschen, die evangelische oder katholische Theolog:innen sind und Menschen, die mit Theologie und Kirche bisher kaum in Berührung gekommen sind; Menschen, die politisch interessiert und engagiert sind und Menschen, die einfach neugierig sind, was sich hinter diesem „Politischen Nachtgebet“ wohl verbergen mag.
Was mit Diskussionen über theologische Fragen und deren politische Konsequenzen in einem kleinen ökumenischen Kreis von Freund:innen begann, mündete bald in verschiedenen Aktionen, in denen sie eine erste Form des politischen Gebetes ausprobierten. Auf dem Katholikentag 1968 in Essen konnte eine erste Liturgie des politischen Gebetes gehalten werden. Da diese Anfrage aber im Organisationsteam nicht auf allzu große Begeisterung stieß, wurde das politische Gebet auf 23 Uhr gelegt und damit zum politischen Nachtgebet. Ab dem 1. Oktober 1968 fand es dann monatlich in der Kölner Antoniterkirche statt und schon bald entwickelten sich ähnliche Gruppen in anderen Städten.
„Jeder theologische Satz muss zugleich auch ein politischer sein.“ Dass aus der Beschäftigung mit theologischen Fragen politische Konsequenzen folgen müssen, ist die einende Grundeinstellung der Gruppe, die das erste politische Nachtgebet und danach viele weitere organisierte. Die Verknüpfung von Evangelium und Politik, wie sie das Politische Nachtgebet vorsah, wurde aber vielfach falsch verstanden, sodass diese sogar mit der politischen Verwendung des Evangeliums der Deutschen Christen zur Zeit des Nationalsozialismus verglichen wurde. Im Mittelpunkt des Politischen Nachtgebetes stand aber vielmehr die Vermittlung von Informationen über bestimmte politische Themen, Meditationen und die Auseinandersetzung mit biblischen Texten, Diskussionen sowie der Aufruf zu einer themen-spezifischen Aktion.
Das Politische Nachtgebet war eine Form des Protests. Ein Protest gegen eine Kirche, die hinter ihren eigenen Mauern zurückbleibt; eine Kirche, die weltlos ist. Ein Protest gegen die Hoffnungslosigkeit, mit der viele Menschen der Welt begegnen, indem sie sagen „Wir können ja doch nichts tun“. Ein Protest gegen eine Form des Gebetes, die naiv und ohne eigene Reflexion jegliche Verantwortung abzugeben versucht.
Das ist der eigene Anspruch des politischen Nachtgebetes: Gebet nicht als etwas zu verstehen, in dem die Menschen alle Dinge auf Gott laden und sich selbst dadurch sämtlicher Verantwortlichkeiten entziehen. Gebet ist hier viel mehr Ausdruck dafür, Verantwortung für die Welt Gottes zu übernehmen und damit zu bezeugen, dass diese Welt mich als betende Person etwas angeht. Zugegebenermaßen kein geringer Anspruch. Aber dieser Anspruch ist zugleich auch Zuspruch. Der Zuspruch, dass es eben nicht nur unsere Welt ist und dass Gott, wenn er auch nicht wunderhaft und unmittelbar handelt, doch unsere menschlichen Hände gebraucht. Beides, Zuspruch und Anspruch, wird im Glaubensbekenntnis deutlich, welches Dorothee Sölle, Mitgründerin und eine der leitenden Personen des Politischen Nachgebetes, an jenem 1. Oktober 1968 in der Antoniterkirche sprach:
Ich glaube an Gott
der die Welt nicht fertig geschaffen hat
wie ein Ding das immer so bleiben muss
der nicht nach ewigen Gesetzen regiert
die unabänderlich gelten
nicht nach natürlichen Ordnungen
von Armen und Reichen
Sachverständigen und Uninformierten
Herrschenden und Ausgelieferten
Ich glaube an Gott
der den Widerspruch des Lebendigen will
und die Veränderung aller Zustände
durch unsere Arbeit
durch unsere Politik
[…]
Ich glaube an den gerechten Frieden
der herstellbar ist
an die Möglichkeit eines sinnvollen Lebens
für alle Menschen
an die Zukunft dieser Welt Gottes.
Amen.