Können wir uns eine Welt vorstellen, in der Liebe statt Konkurrenz, Solidarität statt Kampf, Frieden statt Hass herrschen? Was treibt Menschen in die Leere und in die Hoffnungslosigkeit? Welche Zustände halten uns hungrig, durstig und suchend? Der Satz aus meinem Lieblingsbuch: „Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird?“
Es gibt menschliche Erfahrungen, die sind unabhängig von Zeit und Ort: Die Erfahrung, dass Menschen verletzlich und begrenzt sind. Die Erfahrung, dass wir uns an Realitäten gewöhnen können. Gab es schon mal eine Zeit, in der die Welt ohne Leiden war, ohne Krieg und ohne Hass? Können wir uns folgenden Moment vorstellen: Gott* sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.
Die Erfahrung des Bösen, des Leidens äußert sich in dem Begriff der Sünde. Die Trennung von Gott*, von dem, der einst sagte, dass alles gut sei. Die Trennung von der Absoluten, von der, die in der Bibel Gerechtigkeit und Liebe genannt wird.
Theologisch gesprochen heißt es oft, Jesus habe mit seinem Kreuzestod alles Leid, allen Schmerz dieser Welt auf sich genommen. Wie sehr würde ein solcher Kreuzestod heute schmerzen. Wie würde ein Mensch leiden, der das täte: Jede Verzweiflung in Moria, jeden Schmerz auf der Flucht, jede Angst um die Tochter, jede verletzende Äußerung, jeden verlorenen Kampf für ein bisschen mehr Freiheit.
Der Begriff der Erbsünde hat diese menschliche Erfahrung rezipiert, sie als allgemeines, menschliches Schicksal gedeutet. Wir Menschen sind nicht nur von Gott* geliebt, sondern auch Sünder*innen, hieß es. Die tiefe Dimension dieser Annahme zeigte sich noch bis vor einigen Jahrzehnten in der Taufpraxis im Krankenhaus, um Neugeborene möglichst schnell von dieser „Erb- bzw. Ursünde“ zu retten. Die schlimmste Vorstellung war, dass Neugeborene ohne den Zuspruch in der Taufe sterben würden und dieser Sünde hilflos ausgeliefert seien.
Die Bibel kennt den Begriff der Erbsünde nicht, sie erzählt eine Geschichte von Adam und Eva. Eine Geschichte, aus der so viel gemacht wurde, vor allem Schlechtes.
Der Begriff der Erbsünde greift dennoch einen zentralen Punkt auf, den ich für wichtig halte. Er umfasst zwei Dimensionen: Erbe und Sünde. Wir Menschen werden in die Welt und die dazugehörigen Strukturen hineingeworfen. Wir kennen keine Welt ohne Leid, wir kennen keine Welt ohne Verlierer*innen, keine Welt in Frieden. Vorurteile und diskriminierende Strukturen werden nicht ausgesucht und können deshalb auch nicht leicht abgelegt werden, weil sie doch schon „immer“ zu dieser Welt dazugehören. Die Einwilligung in diese Strukturen ist keine Entscheidung, denn sie haften klebrig, dunkel und verletzend an uns, an unseren Kinderbüchern, an der Art, wie wir durch die Straßen gehen und was wir für gerecht und ungerecht halten. Es gibt Menschen, die verhungern und es gibt Menschen, die so viel haben, dass die Fülle sie in die Leere treibt. Dabei geht es nicht um einen moralischen Zeigefinger, sondern einzig und allein darum, dass die Welt so komplex wie sie sein mag, so viel Unwissenheit, wie man mir vorwerfen mag, Verhungernden und Unersättlichen auf einem Planeten ein Zuhause bietet. Gott* steht für das Gegenüber, für die Seite des Lebens, für eine andere Dimension des Lebens. Vielleicht ist es auch dass, was ich aus der Auferstehungsgeschichte ziehe. Dass das Leben gegen den Tod noch immer das letzte Wort gehabt hat. Die Bibel spricht zwar von dem sündigen Menschen, aber im Diskurs um sie, braucht es eine Verarbeitung, die mit der Verantwortung des Menschen zusammengeht. Um verantwortlich und schuldfähig zu bleiben, braucht der Mensch eine gewissen Handlungsoption gegenüber der Sünde. Dabei geht es nicht darum, sündlos zu werden, sondern darum, wie man sich zu den ihr innewohnenden Strukturen verhält. Die Bibel spricht von einem Bewusstsein über die Sünde, das wir Menschen erlangen können. Wir können nicht aus den Strukturen dieser Welt aussteigen, keine Parallelwelt aufbauen, aber wir müssen uns mit der Sünde nicht verschwistern. Sich mit der Sünde anzufreunden, bedeutet „nicht mehr zu verzweifeln“, sich an dem Leid, an dem Schmerz, an den Tränen dieser Welt nicht mehr zu stören. Weil Gott* sich so radikal mit dem Leben solidarisierte, sind wir befreit, diese Solidarität einzuüben und an diesem Prozess immer wieder zu scheitern. Die biblischen Texte zeigen eine menschliche Realität. Sie zeigen, dass der Tod, das „Wandeln in der Finsternis“ Teil dieser Welt, Teil der Menschheitsgeschichte sind, dass es tödliche und verstummende Strukturen gibt, die nie das Ende meinen dürfen.
„Liebe deckt der Sünden Menge zu.“ Das hat etwas mit reellem Leben zu tun. Die Bibel hat Geschichten von reellen Menschen erzählt. Von Menschen, denen die Welt vermittelt hat, dass sie als Person nicht liebenswert, nicht genug, nicht ausreichend sind. Die blutflüssige Frau, die arme Witwe, Fremde und Heimatlose. Menschen, die die Bibel kennt. Wie lässt sich von Gott* sprechen, ohne über diejenigen zu sprechen, die an Strukturen dieser Welt so verzweifelt leiden und was macht es mit uns, in diese Strukturen einzustimmen?
Und deshalb ist die Frage nach der Sünde verbunden mit einer gesellschaftlichen Frage, die danach fragt, was uns Menschen von uns selbst, dem Gegenüber und der Natur entfremdet? Was verhindert, dass wir uns in Solidarität einüben? Ein Sündenverständnis, das ich für anschlussfähig halte, geht dabei über das Opfer*/Täter*innen-Schema weithinaus, weil es die zentrale Position verfolgt, dass eine Welt, in der der Satz „und es war gut“ nur für einen Teil der Bevölkerung gilt, nicht die Welt ist, die Gott* meinte.